„Veränderung beginnt im Dialog”
– Denkanstöße für eine zukunftsfähige Gesellschaft
Im Gespräch mit Michael Telkmann
In einer demokratischen Gesellschaft hat Bildung die Aufgabe, Menschen ein freies, erfolgreiches, sicheres und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Doch wie selbstbestimmt können wir in einer Welt wirklich sein, in der äußere Strukturen unsere Spielräume oft stark einschränken? Michael Telkmann ist Sozialwissenschaftler sowie systemischer Berater und Supervisor und engagiert sich seit Jahren in den Bereichen soziokulturelle Bildung und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Sein Ansatz: Veränderung beginnt im Dialog und bei der eigenen Haltung – trotz, ja vielleicht gerade wegen der Komplexität gesellschaftlicher Systeme.
Im Interview spricht Michael über die Herausforderungen und Grenzen individueller Selbstbestimmung und räumt mit verbreiteten Mythen zur Selbstoptimierung auf. Seine Haltung sieht er als inneren Kompass, der in ständiger Reflexion geschärft werden muss – vor allem im ehrlichen Austausch mit anderen. Dabei wird deutlich: Wirkliche Selbstbestimmung braucht nicht nur innere Antriebskraft, sondern auch äußere Möglichkeitsräume. Wer ständig an strukturelle Begrenzungen stößt, kann kaum frei entscheiden – und dennoch wird die Verantwortung für Veränderung meist beim Einzelnen abgeladen.
In seiner Arbeit als Supervisor trifft Michael regelmäßig auf die Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Welt: Steigende Unsicherheit, permanente Leistungsanforderungen und soziale Ungleichheiten verdrängen Möglichkeiten für echte Begegnung, während vermeintliche Freiheiten in Social Media und Arbeitswelt oft mehr Druck als Zugehörigkeit erzeugen. Was fehlt, so sein Plädoyer, sind Räume für authentische Begegnungen – fernab von Optimierungszwang, bürokratischen Hürden und Ergebnisdruck. Doch ist echte Veränderung auf individueller Ebene überhaupt möglich, wenn gesellschaftliche Bedingungen immer enger werden? Kann man sich in Krisenzeiten wirklich selbstbestimmen – und was braucht es, damit Mut zur Offenheit und ehrlicher Dialog überhaupt entstehen?
Michael bleibt trotz aller Herausforderungen optimistisch. Sein neues Projekt zielt darauf ab, Dialogräume zu schaffen – fernab von Förderstress und Normen, mit echter Zeit für Zuhören, Begegnung und Entwicklung. Ist das vielleicht der eigentliche Luxus unserer Zeit? Wer das Interview liest, wird spüren: Selbstbestimmung bleibt ein vielschichtiger Balanceakt – aber die größte Veränderung für einen selbst und für andere beginnt oft im Kleinen.
Das vollständige, inspirierende Interview mit Michael Telkmann, das diese Fragen vertieft und weitere Denkanstöße liefert, findet ihr hier.
Rike: Du beschäftigst dich beruflich intensiv mit dem Thema Selbstbestimmung. Welche Rolle spielt dabei die eigene Haltung?
Michael: Meine Haltung ist so etwas wie mein Kompass – sie hat sich im Laufe der Jahre kontinuierlich entwickelt. Sie immer wieder zu reflektieren, ist zentral für meine Arbeit. Ich frage mich daher regelmäßig: Wie denke ich eigentlich? Was hat sich in mir verändert? Das funktioniert besonders gut im Austausch mit Menschen, die ebenfalls offen für Reflexion sind. Nach dem Studium dachte ich kurz: Jetzt weiß ich alles. Doch schnell wurde mir klar: Menschen sind unterschiedlich, ihre Wünsche auch. Es braucht echte Neugier, den eigenen Standpunkt kontinuierlich zu hinterfragen und immer wieder andere Perspektiven zuzulassen.
Rike: “Selbst”-Konzepte sind heute in aller Munde – aber wo, würdest du sagen, stößt Selbstbestimmung an ihre Grenzen?
Michael: Oft wird Selbstbestimmung als individuelles Ziel dargestellt. Aber wie selbstbestimmt sind wir wirklich, wenn zentrale Entscheidungen – wie etwa der Wohnort – faktisch nicht frei getroffen werden können? Es gibt Städte, ganze Regionen, die für viele Menschen allein aus finanziellen Gründen unerreichbar sind. Wer hart arbeitet, kann sich längst nicht mehr sicher sein, ein bezahlbares Zuhause zu finden. Gesellschaftliche Strukturen setzen den Rahmen, in dem wir handeln – und dieser Rahmen ist oft enger, als wir wahrhaben wollen. Wer ständig an strukturelle Grenzen stößt, kann sich nicht ernsthaft als frei in seinen Entscheidungen bezeichnen. Und dennoch wird die Verantwortung für Veränderung meist an das Individuum delegiert. Das greift zu kurz. Wirkliche Selbstbestimmung braucht nicht nur inneren Willen, sondern auch äußere Möglichkeiten.
Rike: Ist eine zentrale Systemveränderung überhaupt möglich – oder nur von innen heraus?
Michael: Der Glaube, alles lenken zu können, ist ein Mythos unserer westlichen Denkweise. Unabhängig davon bestimmen oft wirtschaftliche Interessen das System, nicht Werte wie Demokratie oder Freiheit. Wenn immer weniger Menschen am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben, werden zentrale Bedürfnisse wie Bildung oder Wohnen zum Luxus – das untergräbt jede Form von Selbstbestimmung. Menschen müssen sich sicher fühlen, um sich entwickeln zu können. Aber der Stresspegel steigt, die Unsicherheiten nehmen zu. Viele Kinder und Jugendliche wachsen heute in einem Umfeld auf, in dem Identität, Selbstwert und Eigenständigkeit permanent unter Druck stehen – verstärkt durch Social Media und teilweise sinnlose Leistungsanforderungen in der Schule.
Rike: Es scheint, als würde uns der Gedanke an Selbstoptimierung überall begegnen, sogar in Bereichen, die eigentlich der Entlastung dienen sollen.
Michael: Ja, das sehe ich überall. Meditation, Sport – vieles wird zum Werkzeug, um „noch besser zu funktionieren“. Das echte Wohlbefinden verliert an Bedeutung, Leistung rückt in den Vordergrund. Unternehmen engagieren Coaches für ihre Mitarbeiter:innen, um die Produktivität zu steigern – oft wird das als persönliche Entwicklung verkauft, aber das kann in die Irre führen. Besonders junge Menschen spüren: Es wird von ihnen Selbstbestimmung verlangt, aber sie erleben eine Welt voller Krisen, Unsicherheiten und widersprüchlichen Anforderungen. Das überfordert viele schlichtweg.
Rike: Gleichzeitig wird Selbstverantwortung oft nach oben delegiert – an Politik, Institutionen, Führungskräfte. Was bedeutet das für die Chance auf Veränderung?
Michael: Ich arbeite gern mit dem Bewusstsein, dass Entwicklung ein Weg in kleinen Schritten ist. In meinen Begegnungen merke ich regelmäßig: Die Erwartung, immer „optimal“ zu performen, setzt besonders junge Menschen unter Druck. Sie werden zu Selbstbestimmung aufgefordert, doch die Umgebung lässt das kaum zu.
Gesellschaftlich wird die Verantwortung immer mehr nach oben abgeschoben – also nach dem Motto „Die Politik soll alles regeln“ – so geht die persönliche Verantwortungsübernahme verloren, die wiederum entscheidend für Veränderung ist, auch für die eigene.
Rike: Trotzdem ist da häufig dieses Gefühl von Ohnmacht angesichts des großen, komplexen Ganzen …
Michael: Ich glaube, alle können etwas tun, aber wir sind nicht mehr miteinander verbunden. Was fehlt, ist der Austausch: Früher kam man bewusst und häufiger zusammen – heute leben wir oft aneinander vorbei. Wir sind darauf fokussiert, uns von uns selbst abzulenken. Besonders in digitalen Räumen nehmen Rollen und Fassaden oft mehr Raum ein als echte Begegnung. Ohne Dialog fehlt der Spiegel, der zur Selbstreflexion und Entwicklung beiträgt. Denn erst im Gespräch erkennst du den anderen, aber vor allem dich selbst.
Rike: Wie kann es gelingen, solche Räume für authentische Begegnung wiederzugewinnen?
Michael: Ich erlebe genau das als größte Herausforderung: Bürokratische Hürden, unüberschaubare Förderbedingungen – das alles hemmt viele Initiativen. Wenn ein Verein ein kleines Sozialprojekt mit zwei Angestellten starten will, muss er heute wie ein Unternehmen agieren – mit denselben Auflagen und Verordnungen. Doch wer soll das stemmen – wann und wie? Es fehlt nicht selten an Zeit und Ruhe für Begegnung jenseits von Ergebnisdruck und Dokumentationspflicht.
Rike: Wo siehst du dennoch Hebel für Veränderung?
Michael: Für mich beginnt Veränderung immer im Kleinen. Wer den Mut aufbringt, ehrlich auf sich selbst zu schauen, die eigenen Muster zu reflektieren und daraus eine neue Haltung zu entwickeln, schafft damit eine wichtige Grundlage. Das gilt genauso für Organisationen. Wenn ich “mit mir selbst klar komme”, treffe ich bessere Entscheidungen, gehe offener auf andere zu und begegne der Welt bewusster. Vielleicht wirkt das ansteckend und kann positive Veränderung anstoßen – weniger als Selbstoptimierung, sondern vielmehr als gelebte Selbstfürsorge und echte Empathie. Und genau diese Werte haben das Potenzial, auf Dauer auch größere Strukturen zu wandeln.
Rike: Kein einfacher Weg in einer Zeit, in der alles komplex und schnelllebig ist …
Michael: Stress ist ein zentrales Thema – echte Selbstbestimmung ist unter chronischem Stress kaum möglich. Gerade im sozialen Bereich sehe ich viele Kolleg*innen, die mit Idealismus starten und an engen Strukturen und fehlendem Raum für Reflexion und persönliches Wachstum scheitern. Innehalten, Selbstfürsorge und persönliche Entwicklung sind kein Luxus, sondern Voraussetzung für nachhaltiges Handeln. Systeme verändern sich nur, wenn die Menschen darin die Möglichkeit bekommen, ihre Haltung zu sich selbst und zu Themen des Arbeitsalltags kontinuierlich zu hinterfragen. Zum Glück erkennen das inzwischen auch viele NGOs sowie Unternehmen und bringen die Bereitschaft mit, neue Wege zu gehen.
Rike: Es braucht Mut – und der ist oft schwer aufzubringen, wenn Unsicherheit überwiegt.
Michael: Das stimmt. Über Mut zu sprechen ist einfach – ihn zu leben eine ganz andere Sache. Mut zeigt sich im Tun und im ehrlichen Hinschauen. In Workshops mit Soldaten im Kaukasus zum Beispiel, wo für mich zunächst Kriegserfahrungen als Ursache für das Empfinden von Leid im Vordergrund zu stehen schienen, kamen am Ende oft ganz andere, vielschichtige, familiäre Prägungen zum Vorschein. Für alle Beteiligten – auch für mich – war das eine tiefe und überraschende Erfahrung. Es braucht Mut auf beiden Seiten um derartige Erkenntnisse zuzulassen : bei den Menschen selbst und denen, die sie begleiten. Und ich finde, die Qualität des Zuhörens ist oft entscheidend.
Rike: Dabei sehe ich auch die Schwierigkeit, Emotionen richtig einzuordnen und konstruktiv in Worte zu fassen.
Michael: Nicht immer. Es gibt viele Methoden, die da helfen können – zum Beispiel Aufstellungen oder Körperarbeit, die innere Themen spürbar machen, gerade wenn die Sprache nicht reicht. Es lohnt sich sehr, nach innen zu schauen. Viele unserer Sorgen, Zweifel oder Überzeugungen sind nicht unverrückbare Wahrheiten, sondern Konstrukte unseres Geistes – geprägt durch Erfahrungen, Erziehung, Gesellschaft. Wenn wir das erkennen, können wir anfangen, sie zu dekonstruieren. Das ist kein einfacher Prozess, sondern eine Übung, die Geduld und Selbstreflexion verlangt. Doch er kann dazu führen, dass wir innerlich freier werden – trotz der äußeren Begrenzungen.
Selbstbestimmung bedeutet also nicht nur, Wahlmöglichkeiten im Außen zu haben, sondern auch im Inneren neue Perspektiven zuzulassen. Es ist ein Zusammenspiel: Die Veränderung der Welt beginnt auch bei uns selbst – aber sie darf nicht dort enden.
Rike: Was möchtest du im Moment am stärksten in deine Arbeit einbringen? Gibt es Projekte, die dich besonders beschäftigen?
Michael: Ganz ehrlich: Nach vielen Jahren voll Bürokratie und der Frustration über komplizierte Anträge habe ich entschieden, zurück zu den Wurzeln zu gehen – ohne Förderdschungel. Wir haben im kleinen Kreis Eigenmittel gesammelt und starten ein Projekt, in dessen Zentrum das steht, worüber wir heute reden: Echte Dialogräume schaffen, frei von Vorgaben, ohne Leistungsdruck und dem Durchsetzen einzelner Meinungen.
Rike: Wie sieht das aus?
Michael: Wir möchten Räume schaffen, in denen Menschen sich begegnen, mit offenem Interesse füreinander. Im Mittelpunkt steht ein echtes, neugieriges Zuhören. Jede und jeder entscheidet für sich, wie viel sie oder er mitteilen möchte. Das ist für mich ein echter Luxus, den ich mir jetzt bewusst erlaube – und ich kann mich darauf verlassen, dass wir genau das im kreativ:LABOR umsetzen können.
Rike: Herzlichen Dank, Telke, für dieses inspirierende Gespräch!
Michael: Gerne, danke dir.